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exex_2005/exex.change nr. 2/presse

Wild ist hier nichts
Der Genfer Künstler Jérémie Gindre las im Projektraum exex aus seinem Fotoroman «La Fonte des Bois»

Mit einem Kunststipendium konnte Jérémie Gindre an den Polarkreis reisen. Heimgebracht hat der Genfer Künstler einen Fotoroman über Daniel, den wilden Abenteurer.

 

Sina Bühler

 

Der Weihnachtsmann ist zu blöd. Und die Rentiere sind idiotisch. Vom elenden Gebimmel süsslicher Weihnachtsmelodien, die das Dorf akustisch verschleimen, gar nicht zu reden. Die Stimmung könnte besser sein, in Rovaniemi in Finnland. Daniels Stimmung jedenfalls. Denn Daniel ist auf der Suche nach Aufregung. Und einer, der bei «Lapplandsafaris» eine Reise an den Polarkreis bucht, will schliesslich keine grünen Elfen sehen, die im Juli seine Postkarten aus dem Dorf des Weihnachtsmannes abstempeln. Einer wie Daniel will Aufregung, Daniel will wild sein.

 

Auf der Strasse geblieben

So viel zum Thema «La Fonte des Bois» - die Holzschmelze. Jérémie Gindre, der Genfer Künstler, der noch bis 17. April im Projektraum exex «Warum die Pilze hier und dort wachsen» ausstellt, hat das Buch geschrieben und fotografiert. Einen Fotoroman - «eine feine Idee und als Medium arg unterschätzt», sagt der Autor. Er liest an diesem Donnerstag im exex - auf Französisch, und deshalb wird die Lesung von der Alliance Française de Saint-Gall mitorganisiert. Die Geschichte aber ist eine finnische Geschichte. «Ich wollte die Wildnis am Polarkreis sehen», sagt Jérémie Gindre, und 2003 bewarb er sich deshalb um ein Kunststipendium in Koppelo, einem kleinen Dorf ganz im Norden Finnlands. Als er in der Wildnis ankam, war das Wilde ziemlich zahm. Schnurgerade Strassen führen von Dorf zu Dorf: «Und niemand, absolut niemand bewegte sich von den Strassen weg», erinnert sich Gindre.

Eine seltsame Natur Schon hatte er das Thema für sein Buch. Der Künstler reist durch die Wälder, zweigt ständig von ebendiesen Strassen ab und findet eine seltsame Natur. Irgendetwas stimmt nie: eine Blechhütte, ein Haufen ranziger Pneus, ein Ruderboot, eine Schule mitten im Wald. Die Wildnis ist nicht, der Mensch ist überall. Jérémie Gindre fotografiert, erfindet Geschichten zu den Fotografien, sucht Fotos zu den Geschichten. Komponiert hat er damit Daniels Suche nach dem Abenteuer. Daniel, der sich auf der Gruppenreise im Dorf des Weihnachtsmannes langweilt, vom aufgemalten Polarkreis auf der Strasse aber hin und weg ist und unbedingt die Mitternachtssonne sehen will. «Also spielt Daniel Robinson Crusoe, nur wenige Meter neben der Hauptstrasse», sagt Gindre. Und weil das erst die nötige Aufregung bringt, klaut er Fahr- und Motorräder, bricht durch Fenster in eine Waldsauna ein, flieht vor Menschen, die ihn auf der Überlebenstour erwischen könnten.

 

Was eigentlich?

Gindre ist ein begabter Fotoroman-Erzähler. So langweilig und zufällig die Fotos erscheinen, so unvorhersehbar rennt der Text im Zickzack durch die finnischen Wälder. Der Erzähler schweift immer wieder ab, beobachtet offensichtlich Unwichtiges und lässt das Essentielle seltsamerweise unkommentiert. Raum für Geschichten, die sich die Leserinnen und Leser selbst dazu denken können. So wird auch Daniel selbst nur rudimentär beschrieben. Wir wissen, er trägt eine Windjacke, grilliert Würstchen, verliert auf der Exkursion sein Bauchtäschli und hat von Mücken zerstochene Arme. Und den Rest können wir uns ziemlich genau ausdenken. Nur wild, wild ist hier gar nichts.

 

Aus dem ST.GALLER TAGBLATT vom Samstag, 9. April 2005