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exex_2004/salon nr. 4/presse

Am Vortor zur Verheissung
Die neue Ausstellung im Projektraum exex denkt über das Reisen nach

«Travelogue» - so der Titel des jüngsten Projektes im Projektraum - ist die englische Bezeichnung für Reisebericht. Entstanden ist eine sinnlich anregende und nachdenkliche Ausstellung zur (leidigen) Suche nach dem Glück und einem besseren Leben.

 

Ursula Badrutt Schoch

 

Der ganze Raum am Oberen Graben ist voll von Tankstellenluft. Nicht, dass es nach Benzin riecht. Es ist die Stimmung. Die eingeladenen Künstler haben sich Arbeiten ausgedacht, die alle den Gedanken vom Unterwegssein mit sich tragen. Das aggressive und am Umfeld desinteressierte Geräusch vorbeirasender Autos bildet einen atmosphärischen Klangteppich. Drei Monitore auf einem spröden Bürotisch zeigen die Quelle: die Tankstelle. Die Tankstelle ist einer jener Unorte, die ihren ganz eigenen Platz auf der Reise im Auto bekommen haben. Man fährt daran vorbei. Und doch sind sie - die «Autogrill» und «Pavesi» oder wie sie auch immer heissen - zum Vorort der Verheissung geworden, verkünden ein Stück Annäherung an ein Ziel. Man hält an. An der Tankstelle kann Kraft getankt werden, um die (Lebens-) Getriebe in Fahrt zu halten.

 

Transit und Sehnsucht

Die Tankstelle zwischen Rhäzüns und Bonaduz, die seit der Umfahrung mit der Schnellstrasse auf dem Weg in den Süden ihre Funktion verloren hat, wird seit geraumer Zeit vom Künstlerduo Rüegg/Romani als Ort für Kunstinterventionen benutzt. «Take away» hiess das erste Projekt, bei dem Matthias Rüegg und Chantal Romani die Tankstelle bis auf das Dach und die Betonpfeiler geräumt haben. Weitere Projekte anderer Künstler sind gefolgt und werden folgen (www.tankentankentanken.ch). Aus eben dieser Tankstelle sind jetzt Inventarstücke im St.�Galler Projektraum gelandet, die einerseits vom Projekt «Tankentankentanken» berichten, die aber vor allem als eigene künstlerische Recherche zum Thema Reisen funktionieren - aus der Sicht des Tankwarts sozusagen, der neben seiner Pflicht- und Aufgabenerfüllung sich auch die Freude am Western (und damit an der Kopfreise in andere Welten) gönnt. Jürg Rohr, Künstler aus St.Gallen, beschäftigt sich seit längerer Zeit mit dem Umgang von Pressebildern, die uns Tag für Tag die weite Welt in den Briefkasten und zum Znünikaffee bringen. Aus dem St.�Galler Tagblatt hat er ein Archiv zusammengestellt, von dem eine Auswahl von 1200 Dias vor kühles Neonlicht gehängt ist. Erst das Näherkommen, die Bewegung, macht aus dem bunten Bilderteppich ein Archiv des visuellen Weltgeschehens. «Es sind Bilder, die ich nicht einfach fortziehen lassen will», sagt Jürg Rohr. Das Spektrum reicht von Ausstellungen im Projektraum bis zu Gipfeltreffen der Weltmächte. Die Zusammenhänge und Gewichtungen sind zwar fortgelassen, doch über die Wahrnehmung und Erinnerungen des Betrachters bekommen die Bilder ihre (neuen) Geschichten zurück.

 

Reisen als Flucht

Reise kann auch Flucht sein, weniger von Sehnsucht getrieben als von Verzweiflung erzwungen, existenziell und ziellos. Arno Oehri hat - inspiriert von seinem Aufenthalt in den ehemaligen Bädern im Kulturzentrum Scuol Nairs - ein bisschen Badezimmer eingerichtet. Doch die Plättli sind wackelig und das Bild vom Gletscher darin bedrohlicher Ausblick. Dem Topos Sehnsucht nach dem Gebirge ist ein Monitor mit jenem von der Sehnsucht nach Meer in Form einer endlosen Schifffahrt entgegengestellt. Doch die Geschichte, die eine Frau dazu in gebrochenem Deutsch erzählt, ist anders. Die Bosnierin ist tagelang geflohen, hat sich versteckt und ist weiter geflohen. «Ist das Leben oder nicht? - Besser ist Tod», sagt sie irgendwo. Das drückende Gewicht, das Reisen annehmen kann, spielt auch in der Arbeit von Sam Flowers eine Rolle. «Greed is a weapon of mass destruction» steht in unterkühltem Minzgrün in Neonleuchte an der Frontwand. Die Gier als Massenvernichtungswaffe, als Grund für das Scheitern positiver Utopien, für das friedliche Zusammenleben der Menschen, ist ein Gedanke aus einem Song der Band «Faithless». Gefunden hat ihn die Künstlerin ohne die Quelle zu kennen - auf einen Zettel geschrieben und an einen Laternenpfahl geheftet - auf einer Reise. Sam Flowers untersucht in ihren Arbeiten die Voraussetzungen des Glücks. Gefunden hat sie jetzt das Stichwort, das es verhindert.

 

Aus dem ST.GALLER TAGBLATT vom Dienstag, 7. September 2004