Ruth Erat. Tagebuch.

Tag für Tag für Tag für Tag.
Tag eins,
Tag zwei,
Tag drei,
Tag x.
Alltag,
alle Tage,
Seite um Seite um Seite,
Stück für Stück,
eines zum andern:
Lichtkegel, schwarzes Haar, Fellini mit der hochgeschobenen Brille, die Welträtsel, ein Auge, das zuklappt, ein Auge, das klappt auf.

Bücher blähen sich, Tagebücher.
Oder sind das Nachtbücher?
Blatt liegt auf Blatt, liegt auf Blatt.
Die eine Seite hängt sich an die nächste, an die nächste, an die nächste,
etcetera, etcetera, und so weiter, und so weiter, etcetera, etcetera, endlos,
Tag- und Nachtsammlung,
Versammlung der Augenblicke.
Das Auge klappt zu - Schnitt.
Das Auge steht offen - Schnitt.
Das Blatt liegt auf diesem Blatt und jenem und allen andern zuvor.
Das Blatt liegt unter diesem Blatt und jenem und allen andern davor.
Geschichtetes Leben.
Seite für Seite für Seite.
Eine Ritzlinie auf einem Stein und die Asche, die ist wie ein Schatten der Schrift. Laokoons Arme halten unsichtbar die vielfache Schlange fern, den Tod - nutzlos, hoffnungslos. Und ein Brief liegt unter einem Zeitungsartikel, alles datierbar. Aber wer erinnert sich an diesen Tag? Und Stoffbänder schlingen sich um Fotos, und das schwarze, abgeschnittene Haar liegt zwischen Papier und kleinen Stoffstücken, getrennt, gefügt, Band für Band für Band, und Bänder schlingen sich und lösen sich, schnüren zu und fallen weg, gelebtes Leben, eventuell gelebt - vorbei.

Gleich will man das öffnen.
Seine Nase in fremdes Leben stecken, blättern, sagen, dass man sich genau erinnert an einen Film, an eine Ausstellung, an einen Menschen.
Gleich will man lesen und sehen, was einer oder eine dann und dann tat und dachte, am 24. scheussliche Weihnachten, am 14. In Nepal die trauernde Frau und in Staat Scheinwerferkegel, die einen Fabrikeingang beleuchten und ein roter Kran, der bewegungslos dasteht.
Gleich fingert man herum.
Aber nichts da.
Alles ist weggesperrt.
Das Auge klappt auf. Das Auge klappt zu.
Keine Hand öffnet die verschnürten Bändchen, hebt das weisse Deckblatt, reisst den Text aus dem Zement, spielt auf der Handorgel Leporellos Auf- und Einfaltlieder, hört die Aufzählung aus dem Don Giovanni, den Frauenverschleiss, die gerpiesene Schönheit aller.
Alles liegt da, liegt unter Verschluss.
Die Einmachgläser der Zeit sind in gläserne Särge geschlossen.
Abgeschnittenes Haar liegt abgeschnitten von uns da.
Sommersammlung, Wintersammlung, Nachtsammlung -
und keine Einladung mit den Fingern aus Töpfen zu naschen,
Frühjahrsblüten und Herbstblätter zu pflücken.
Die Steinhand liegt unter Glas.
Unter Glas der Tag,
der Tag eins,
der Tag zwei,
der Tag drei,
der Tag x,
gesammelt, aufgereiht, in Vitrinenschreinen versammelt, im Kloster, in der Bücherstube, in Glastkästen, in Kisten, in Buchdeckel gefasst, in die Terrarien der Bewahrung gesperrt. Nutzlos, die weissen Handschuhe zum Umblättern. Die weiss bemalten Kartons bleiben verschlossen. Die Buchrücken ragen aus grauem Zement.
Was ist das?
Was ist aus dem Buch geworden, von dem man sich doch Seite für Seite Aufschluss erhofft, wie eines zum andern kommt, wie zusammenhängt, was Tag für Tag geschieht, was seine Ordnung im Dann-und-dann-und-dann hat?
Reliquien?
Blindenschriftkompendien?
Menetekel, die nur mehr ermahnen, dass wir leseunfähig sind?

Wo beginnen, wenn man allenfalls doch lesen wollte?
Einfach nach dem Muster von Guillaume Apollinaire zählen, was es gibt, aufzählen, wie in Calligrammes aus dem Jahr 1915: Il-y-a, es gibt?
Es gibt das abgeschnittene Haar, das ist sehr schwarz.
Es gibt den Kreis und das Dreieck und die Quadratur, die nicht aufgeht.
Es gibt das All, da werden die Sterne gezählt und die Nummern versteht keiner.
Es gibt die Zahl Pi, da folgt keine Formation, die gleich wie die zuvor ist, der andern und endlos ist alles anders und anders und anders.
Es gibt die Alchemie und das All.
Es gibt den Himmel.
Es gibt die Erde.
Es gibt diesen Raum zwischen Himmel und Erde, den wir ein- und ausatmen, der durchlöchert über uns droht, den die schwarzen Löcher in sich saugen und saugen.
Es gibt, was es nicht gibt: einen Himmel und eine Erde, die auf einem Bild miteinander verbunden sind.

Es gibt den Menschen, der steht allein da.
Es gibt das Lied, das ist in ein Dunkel getaucht.
Es gibt ein Boot und daneben noch ein Boot.
Es gibt lichten Farben. Es gibt die Lichtung.
Es gibt, was man träumt, die Linien, die sich über die Faltungen ziehn.

Es gibt die Geschichte von einem Gott, der hat seine Bücher der Wahrheit.
Es gibt eine berndeutsche Bibel.
Es gibt Bänder und Bände.
Es gibt, das das Steinbuch und den Zementstein und das Buch der Bücher, da blättert niemand, da liest man nur die Titelzementierung und liest Talmud und Koran und Bibel und Bibel und Bibel und sieht den Zement auf dem Zement neben dem Zement den Zement und wieder den Zement, die Mauer, das Pflaster, und wieder den Stein. Und mit dem Stein erschlägt einer den andern.

Das Ende.
Das Ende ist auch der Anfang: Das Steinbuch. Die in Stein gehauenen mosaischen Gesetzte. Die Bücher der drei abrahamischen Religionen. Bis ins 11. Jahrhundert war die Bibel ein schweres Buch, ein ausgestelltes Buch, ein Buch der Litanei, den Illiterati, den Frauen, den Bauern, sogar Königen ein verschlossenes Buch, das Buch der verschlossenen Sprache. Ein Beweis für die Wahrheit, in der Aufklärung bezweifelt. Aber der Zweifel war wohl nicht stark genug gegen die Versteinerung. Das Buch klappte zu, und wer es wieder und ständig in noch billigeren und leichteren Ausführungen aufklappte, dem wurde es zum Stein, zum Grenzstein, zur Mauer, zum Steinschlag.
Das steinigende Land Allahs.
Die steinernen Mauern Jehovas.
Die zementierte Macht der Christen.
Nicht vergeblich, dieses Bücherregal von Hans Thomann: Bibeln, Talmud und Koran in Zement aus dem Jahr 1993 - die Rückkehr zum schweren Buch, zum Stein, zum Fels Petri, zum Stein der Kaaba, zu den Steintafeln Jehovas, zu steinernen Anfängen, zur steinernen Mauer des Rechts und des Unrechts, zur verschlossenen Sprache, in der wir Gefangene sind, eingemauert dastehen für uns.
Es ist unsere Geschichte, ob wir wollen oder nicht.
Hans Thomann zeigt uns uns: auch uns in Berndeutsch, im Dialekt, uns in der Gefangenschaft der Sprache der Männer, die keine Steinmauern mehr bauen, oben, im Gebirge, uns in der Einsperrung in die Wörter der Frauen, die sieht man den Kopf nicht an Steinmauern stossen, die öffnen auch keine Fenster, um aus ihrem Steinhaus gegen die zementierte Welt loszuschreien.
Die Bücher sind verschlossen.
Wir in unseren verschlossenen Sprachbüchern, wir.
Verschlossen ist Tag eins.
Verschlossen ist Tag zwei.
Verschlossen sind die Tage.

Verschlossen ist dies und jenes und alles, und es bläht sich, bläht die grossen Hefte von René Düsel. Gleich öffnen sie sich, und man kann da seine Nase in fremde Tage stecken, mit den Fingern Zeitungsausschnitte heben, darunter ein Foto finden, kann den Kopf schütteln, kann nicken, kann mit spitzem Finger auf Eingeklebtes zeigen. Aber nichts da. Ingrid Tekenbroek und Jonny Müller, die Ausstellungsmacher haben die Bände weggesperrt. Man kann nicht im Leben von René Düsel wühlen und aus diesem Leben Brocken herausklauben, an fremdem Alltag riechen, von anderem Leben naschen. Es gibt nur das Auge. Es klappt auf. Es klappt zu. Wir sind auf uns selbst verwiesen, ob uns das passt oder nicht. Da sind Augenblicke. Ob uns das hier, wo wir von fremden Leben leben wollten, gefällt oder nicht. Es bleiben uns nur die eigenen Bilder. Da liegt Seite über Seite über Seite das Gesehene. Jahr für Jahr kommt mehr dazu. Ein Sammelsurium heisst es. Jeder hat seines. Da fliesst vielleicht die ausgespuckte Zahnpasta im Lavabo im Wasserstrahl weg, da fällt der Blick auf einen Artikel über das Leben in einem Stadtkreis. Da liegt vom Vorabend ein Kinderzeichnung auf dem Tisch. Da bellt ein Hund und der Mann hat keine Hände. Da sitzt auf einem Foto einer in einem Stuhl, schaut zum Fotografen, von dem man nur weiss, dass er da war. Da hebt eine sehr schöne Frau ihren Arm.
Schicht um Schicht ist da, was ins Auge gefallen ist. Unter dem weissen Deckel die Sammelsuriums-Welt von René Düsel. Man kann sich das vorstellen: Alles ohne unter- oder überordnende Konjunktionen. Es gibt kein «Weil», kein «Wenn», kein «Damit». Es gibt nur «Und» - nur die egalitäre Versammlung von dem, was in ein leeres Buch geklebt werden kann: Zugestelltes, Mitgenommenes, Gebrachtes, Abgeholtes, Ausgeschnittenes. Von Tag zu Tag ein Mehr an Bildern, Zeichen und Wörtern. Ein zunehmend reicherer Schatz. Ein Vorrat, der sich mit dem Alltag anhäuft.

Ein Depot der Vergangenheit.
Wer geht mit ihm zurück, zum Beispiel in diese Bibliothek von Marianne Frei, wo sich Bändchen an Bändchen reiht, von Bändern umschlungen, aus Bändern gelöst, in alte Buchdeckel gefasst, von alten Stoffen getrennt. Alles scheint sehr privat. Und dann heisst es auf einem alten Buchrücken: «Die Welträtsel». Die Fotos, die hier versammelt sind, alle im selben Format, alle aus den vergangenen Jahren: Welträtsel? Pflanzen als Welträtsel? Farben als Welträtsel? Formen als Welträtsel? Grün zum Beispiel als Welträtsel, eingeschlungen in Stoffstreifen, herausgewickelt aus Bändern, umfasst von Textilem?
Marianne Freis Sammlung erhält da mit einem Mal eine ungeheure Dimension, die Dimension des Nichtverstehens und des Verstehenwollens. Verstehen Sie zum Beispiel wirklich, was das ist, eine Pflanze, eine Blume, ein Blatt, was das ist: Vergangenheit? Was hiesse überhaupt. «Verstehen»?
Will man verstehen, wenn man in fremden Tagebüchern wühlt? Versteht man die Person, die dies fotografiert hat und jenes und das andere, irgendwann eine Pflanze, irgendwann einen Stein.

Versteht man, warum Regula Baudenbacher abgeschnittenes, schwarzes Haar sammelte, Haar aus Nepal, Haar der Fremde, Haar der Fremden, hartes Haar, nicht die Locke des Geliebten, nicht das erste Kinderhaar, nicht das eigene Kopfhaar? Es schmerzt nicht, wenn man das Haar abschneidet. Man hört, das Haar wachse auch nach dem Tod weiter. Man weiss, dass in Auschwitz das Haar der Juden hinter Glas gehäuft, verrottet. Trauernde schneiden ihr Haar. Das abgeschnittene Haar liegt da als Zeichen der Einsamkeit. Mit einem Mal ist eine Frau abgeschnitten von allem. Und das Haar liegt auf dem Boden. Man sieht auf Regula Baudenbachers Buchstreifen das Haar und die kleinen Stoffstücke, dazu den Silberschmuck. Haar liegt dazwischen. Haarschmuck, abgeschnitten, hergetragen aus der Fremde. Erinnerung an die Vergangenheit, an Momente der abgeschnittenen und anders gefügten Existenz. Gegenwart. Vergangeneit.

Wer weiss, was das ist: die Vergangenheit, das Leben?
Tagebücher, so meint man, könnten Auskunft geben, endlich Gewissheit. Und man blättert und liest und schaut und sagt: Es war, weil ... und es war, damit ... und es war nicht einfach «und» und «und» und «und», endlos «und», und die Ordnung nichts, was beim nächsten Umblättern gleich wieder zerfällt.

Mit den Tagebüchern ist Lesen versprochen, ist versprochen, dass wir sehen, wie eines zum andern kommt, ist eine Ordnung versprochen. Wer uns das versprochen hat, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass wir in Zeichen inständig Ordnungen lesen, die Rettung vor dem «Und-und-Und-und-Und» suchen und festkleben und umwickeln und einzeichnen und einschreiben, bis wir in diesen Zeichen alles mit allem verknüpft und verklebt und zementiert sehen, und wir, die Gefangenen unserer Ordnungszeichen eingesperrt sind in den Zement unserer Weltsicht, in die tote Ordnung der festgefügten Sprache.

Erinnern wir uns an den Anfang und an das Ende, an Hans Thomanns Zementbücherregal mit den geprägten und gedruckten Titeln, erinnern wir uns an den Zement und wir verstehen, warum Urs Fritz ständig hinausgeht, weggeht, herumgeht, Rom sieht, zum Beispiel Rom, Plätze, Kirchen, Fragmente, Laokoons Schlangen, Tag für Tag den Blick auf die Dinge, die Phänomene, zurückkehrt, malt oder zeichnet oder klebt, oder mischt, was er gesehen hat, nur das, nur das, worauf das Auge gefallen ist.
Fortwährend neue Visualisierung: Trichter und Pläne und Strasse und Haus, Garten, Kreis und Quadrat, Lichtkegel, das Treppenhaus, die unverständlichen Zeichen. Ordnung entsteht. Ordnung wird aufgebrochen, im Labor getrennt, chemisch verändert, verrührt, zermörsert, filtriert, gelöst, aufgekocht, vergärt, destilliert, extrahiert, vakuumiert, ionisiert ... endlos entsteht aus den alten Zeichen und Formen das Neue. In Boxen verpackt, fährt es vorbei und weiter und weiter. Urs Fritz geht und geht, geht endlos. Endlos auf der Flucht vor der Zementierung. Endlos auf der Suche nach der Ordnung. Beständig bleibt nur die Quadratur des Kreises, die Fraktale, die Zahl, die nie ihr Ende findet, nie ihre endgültige Form, nur die zunehmende Annäherung und die zunehmende Aussichtslosigkeit auf definitive Zementierung durch eine Formel, die zu fassen vermag, was die endgültige Ordnung wäre und damit das Ende der Suche, tagein, tagaus, notwendigerweise gefangen in erstellten Ordnungen, notwendigerweise aufgebrochen aus dem, was ist und war.

Das Tagebuch ist der Weg der steten Suche nach Veränderung und Ordnung zugleich. Alles wie auf der Flucht vor dem Ende, das einsperrt in seine Ordnung. Das Tagebuch wie eine alchemistische Reihe von Boxen der Hoffnungslosigkeit und der Hoffnung, des ewigen Aufbruchs aus der Gefangenschaft der Zusammenhänge und zugleich die Geschichte der immer neuen Gefangenschaft in den Systemen des Sehens.

Bruno Steiger zeigt das anders: Suche im Kreis und im Oval, in Graphit, in Abriebtechnik. Abdrücke dessen, was auffindbar ist, Ausschnitte einer durch die Zeit veränderten Oberfläche. Und immer wieder hält die Suche inne. Da ist ein Mensch, da sind zwei Menschen. Da ist ein Boot. Da sind zwei Boote. Da ist ein Wort. Da ist es mehrfach geschrieben: Arschloch. Es wiederholt sich. Ein seltsam schönes Bild. Man lacht. Es endet nicht damit. Es geht weiter. Ölkreide und darüber Dispersion und aufgebrochen durch Ritzlinien. Sirale um Spirale um Spirale. Ständig ändert sich das Format und aus einem Buch entsteht ein neues Buch. Gelöschte Schriftzeichen. Neue Zeichen. Das Manuskript für eine Ausstellung. Der Aufbau einer einstigen Zukunft. Und nichs ist, was schwer wäre. Ein ungeheurer Fundus, der sich um nichts zu kümmern scheint. Abriebe des Lebens. Abriebe der Dinge. Und alles nimmt leichthin seinen Fortgang, löst sich und löst sich weiter, pocht nicht darauf, dazustehen für immer.

Das gehört nicht in einen Glaskasten. Das gehört in einen Beutel, den man mit sich durch die Welt trägt, mit dem man an einem Weiher sitzt, das dunkle Wasser vor Augen, das Boot und das andere Boot und die Oberfläche einer römischen Mauer und weit weg zwei Menschen, da dämmernt der Abend auf, da ist alles still, die Boote tümpeln leer auf dem eindunkelnden Wasser, weit weg hebt ein Mensch seine Arme. Er ist sehr schmal. Er winkt nicht. Er geht weiter, eine Spirale zieht ins All, kehrt mit dem kreisenden Vogel zurück.

Es wird Nacht. Alles wird schwarz. Und es heisst: Asche, und: Asche ist gesprochen. Irgendwo heisst es «rückseitig». Daneben liegen weisse Handschuhe. Nutzlose Versatzstücke zum Umblättern der Seiten von Brigitte Uttar Kornetzky. Da ist alles wie gebrannt, zerbrannt, eingebrannt. Asche. Gesammelt und mit grösster Sorgfalt die Aschenzeichen. Daneben die Steinbücher. Man kann lesen und nicht lesen. Die Zeichen sind eingeritzt, eintätowiert. Es gibt die getrockeneten Rosenblätter auf dem Stein. Seinrosen. Rosenstein. Es gibt das Steinbuch, da liegt alles bereit wie in einer alten Schreibstube. Eine Unheimlichkeit befällt die Betrachterin. Wo sind wir? Ins All der Asche geworfen, in den Stein geritzt, von einer glatten Oberfläche abgewiesen?
Welche Zeit liegt hier? Die Jetztzeit? Die Immer-Zeit?
Wo beginnt die Nacht? Wo bricht der Tag an? Wohin treiben wir in diesem All der Seiten? Ist es die Leere, die da auftaucht? Das Buch ist schwer. Es wiegt dreissig Kilogramm. Es wiegt fünfzig Kilogramm. Es bewegt sich nicht. Es ist offen. Es bleibt, wie es ist, wie es ist.
Der Schwindel der Zeitlosigkeit fällt an. Brigitte Uttar Kornetzkys Steinbücher verlangsamen alles. Jahrmillionen ist die Dauer der Entstehung und der Metamaorphosen des Steins. Die Seiten schlagen sich nicht leichthin auf. Sie wenden sich ausserhalb unserer Zeit, unseres Lebens.
Und wir verstehen vielleicht etwas von unserer Ratlosigkeit beim Gedanken an das, was wir nicht be-greifen, nicht mit unseren Händen fassen: das Gesteinsall, das Sternenall, das Kieselall, das All aller Tage, den Tag und die Nacht.

Wer versteht, was das ist: der Tag? Und wer versteht, dass einem mit einem Mal diese in ihre Kartonschachtel gesteckten textilen Büchlein von Marianne Frei berühren? Und wer versteht, dass einem mit einem Mal bei Karl Fürers Tagebuchblättern Glück befällt. Ist es die Leichtigkeit des Strichs, der Farbe, dieser Verbindung von Seite zu Seite zu Seite? Ist es diese durchschimmernde Farbe? Ist es die Rückseite, die leichter noch als ihr Entstehungsraum von Blatt zu Baltt führt, von Fläche zu Fläche und Linien, die sich auflösen und eben erst begonnen scheinen, wegdriften und doch eben nur kurz angekommen sind?
Das All ist hell. Dass All ist transparent. Es löst sich leichthin von dem Davor. Es kommt leichthin zusammen. Es verwandelt sich mühelos und liegt da, von einem Blatt zum nächsten, zwanglos, einfach so: All, Chemie, das Universum, die Verwandlung. Da ist kein Zwang Gold zu werden. Da sind keine Schläge, um den Weg zum Stein der Weisen freizuhauen. Da legt sich alles Tag für Tag über die Faltungen der Seiten und lässt diese auf ihre Rückseite hin durchscheinend werden. Die Quinta Essenzia, das fünfte Element, das, was alle suchen und suchen, ist hier die Schwebe. Die Gegensätze finden eine zwanglose Balance. Das eine liegt leichthin beim andern. Eine Lösung, die nicht mehr und nicht weniger wäre als die Poesie der transparent gewordenen Seiten aller Tage, die Musik der Verbindung endlos hingezeichneter Verbindung des Auseinanderdriftenden.
Es wäre alles so einfach.

Alle Tage die Schwebe zwischen allem. Das Tagebuch das Glück der Schönheit, wenn sich alles leichthin verbindet, keine Gewalt der Trennung ist, keine Macht der Zementierung, keine Verzweiflung, weil die Rechnung nie aufgeht, die Schönheit und die Natur nur in der Fraktalen festgefügt wären, unfasslich bleiben, weil die Zahl unendlich ungleich weiterführt.
Wenn es gelänge, Tag für Tag und Nacht für Nacht diese zwanglose Verbindung zu erreichen. Wenn diese Schwebe sich einstellte. Wenn die Linie leichthin ins All führte. Wenn die all-chemische Verwandlung sich einstellte. Es wäre ein Glück.

Man möchte die Blätter von Karl Fürer im Wind segeln sehen.
Aber nichts da. Alles liegt unter Verschluss.
Man sollte die Bücher von Hans Thomann gegen Trennungen werfen.
Aber nichts da. Die Lösung wäre zu einfach.
Man wollte sanft über die Büchlein von Marianne Frei streichen, das abgeschnittene Haar, die fremden Stoff- und Papierstücke, das Silber ins eigene Haar stecken.
Nichts da. So einfach ist kein Trost.
Das fremde Leben bleibt das Fremde.

Man sollte an einem Weiher ein Heft von Bruno Steiger aus einem Beutel klauben, einen Stein ins Wasser werfen, die wachsenden Ringe und ihre Auflösung sehen, die Spiralen vor Augen, mit den Händen die Formen von Urs Fritz ertasten, sie mitnehmen auf den Weg.
Nichts da. So leicht geht es nicht, das Sehen.

Man wollte die Handschuhe von Brigitte Uttar Korntzky überstreifen und in die Steinzeit greifen und in René Düsels Sammelsurium schmökern.
Nichts da. Die Zeit der Steine liegt hermetisch verschlossen für sich. Es gibt nur das Auge. Es klappt auf. Es klappt zu. Es wirft uns auf unseren eigenen Alltag zurück.

Die Ausstellungsmacher haben alles weggeschlossen. Die Tagebücher drehen uns eine lange Nase. Wer vorbeigeht, geht am Ende seinen eigenen Weg. Basta. Mit der All-Chemie von Karl Fürer in der Hand lernt man nicht fliegen. Man sieht allenfalls durch den Blick auf diese All-Chemie ein Glück nach dem Weg, nach der Gefangenschaft, nach dem Zurück, nach dem Weiter, nach der Auflösung, nach der unbegreiflichen Zeit, nach dem Tag eins, Tag zwei, Tag drei, Tag x.
Aber natürlich: Eines Tag nimmt jemand seinen Koffer. Da liegen die Augenblicke. Da sind Stein und Haar versammelt. Da sind die Tage, die man nie verstanden hat. Da geht man weiter, macht seine Notizen und Zeichen, all-chemisch, endlos. Eventuell erinnert sich jemand an dieses Märchen, da fliegt jemand in seinem Koffer. Das geht ganz leicht.

 

Der Text von Ruth Erat wurde zu einer Diaprojektion an der Vernissage vom 22. August 2003 ab CD abgespielt.

 

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ruth erat in katharinen während des aufbaus der ausstellung.