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exex_2005/exex.change nr. 2/presse

Zum Verweilen verführen
Jérémie Gindre, Pilze, PH und «Echanges» im Projektraum exex

«Echanges» ist ein Projekt des Schweizerischen Kunstvereins und gefördert von Pro Helvetia, das den Austausch zwischen den Sprachen und Kulturen fördert. Der junge Künstler Jérémie Gindre aus Genf lässt Pilze wachsen.

 

Ursula Badrutt Schoch

 

Der Projektraum exex ist jetzt nur noch zur Hälfte begehbar. Der Rest ist Theater. Physisch nicht betretbar. Vielleicht, damit die Gedanken umso ungehinderter durch die Szenerie Looping schlaufen können. Jérémie Gindre hat eine Balustrade, ein Proszenium, eine Orchestra, eine Bühne gebaut. Und ein Bühnenbild von einem Plakatmaler nach seinen Vorlagen anfertigen lassen, das zugleich auch die Theateraufführung ist. Ein Standbild, das den Moment der fantastischen Entdeckung riesenhafter Pilze festhält.

 

Magic Mushrooms

Die Presse ist anwesend. Die Feuerwehr auch. Während die Presse versucht, das Spektakuläre zu bauschen, bemüht sich die Feuerwehr, das Unding zu löschen. Doch Pilze wachsen da und dort. Zu Hunderten und Tausenden spriessen sie. Ein besonders hübsches und naturalistisches Grüppchen tönt in der Nähe der Zuschauerzone. Das müssen «Magic Mushrooms» sein. Das Publikum, hinter die Abschrankung gewiesen und nicht zuletzt dadurch neugierig gemacht, wird Teil der Geschichte, die es selber zu fädeln gilt. Kopfbilder aus Jules Vernes «Reise zum Mittelpunkt der Erde» tauchen auf, Alice im Wunderland dreht ihre Runden im nichtlinearen Erzählstrang. Vorhänge und Leerstellen geben Raum für das Fantastische frei. Das Wuchern der Pilze scheint sich in den Raum fortzusetzen, Moose durchbrechen die Abschrankung. Wachsen Pilze besser hier und dort, wenn sie anderswo geschnitten werden? Wie die Köpfe der Hydra? Das Spektakuläre der Situation gebiert sich traumhaft selbstverständlich und kann vom Picknickplatz aus in Ruhe erlebt werden. Dort liegt auch etwas Literatur zum Thema auf. Jules Verne, Tim und Struppis «Etoile mystérieuse», Pilzbestimmungsbücher. Und einen Falken hat es dort. Der sitzt auf einem modelleisenbahnähnlichen Berg, der das Tier - obwohl in wirklichkeitsgetreuer Grösse - riesenhaft erscheinen lässt. Als ob der Vogel die Maus, die der Berg gebiert, gefressen hätte.

 

Fabulieren

Ist es Zwerg oder Riese, Realität oder Fiktion, minimalistisch oder detailverliebt, was wir hier sehen? Und sind wir Publikum oder Schauspieler, Beobachter oder Teil der Inszenierung? Jérémie Gindre (geb. 1978) liebt solche Situationen der Mehrdeutigkeit, die das Fabulieren von Geschichten fördern. Dazu bedient er sich allerhand Versatzstücke, die er in der Klischeekiste ebenso findet wie in der Literatur, im Comic, im Film, im Abfall. Seiner Vorliebe für theatralische Inszenierungen kommt sein Hang zur Verknüpfung unterschiedlicher Wirklichkeitsebenen in seinen Installationen, Interventionen, Fotografien, Filmen und Büchern entgegen. Es ist, als ob sich die Geschichten, die er mit seinen Arbeiten anstösst, im Kopf zu wuchern beginnen und immer neue Ableger bilden, in neue Räume vorstossen, sich mit neuen Geschichten verbinden. Unkontrollierbar und leicht chaotisch.

 

Austausch

«Warum die Pilze hier und dort wachsen» ist ein Projekt, das vom Schweizerischen Kunstverein vor sechs Jahren mit dem Namen «Echanges» gestartet wurde mit der Absicht, die verschiedenen Sprachregionen und Kulturen untereinander besser zu verknüpfen. Gindres Pilz-Ausstellung, die den Austausch von Kulturen beinah landwirtschaftlich-wörtlich nimmt, ist die fünfundzwanzigste «Echanges»-Ausstellung. Frank und Patrik Riklin werden ihr Schaffen demnächst im «Fri-Art» in Fribourg als weiteres «Echanges»-Projekt vorstellen. Als kleine Jubiläumsaktion kann der Plakataushang verstanden werden: Jérémie Gindre hat ein grossformatiges Plakat entworfen, das von November 2004 bis Juli 2005 in der ganzen Schweiz auftaucht, zum Rätseln anregt und zurzeit St. Gallen zum Verweilen verführt. Ganz wie das geheimnisvolle Spriessen der Pilze.

 

 

wörtlich: Wie Inspektor Colombo

Ich möchte Geschichten evozieren. Um Fiktionen zu ermöglichen, präpariere ich Räume mit verschiedenen Hinweisen auf mögliche Geschichten, die geschehen sein könnten oder geschehen werden und in die sich der Betrachter hineinversetzen muss - wie Inspektor Colombo. Die TV-Serie «Colombo» ist eine meiner Lieblingssendungen und ein gutes Beispiel, um mein Vorgehen zu erklären. In dieser Serie zeigt man zuerst das Verbrechen und anschliessend das Szenario, das gebaut wird, um dieses Verbrechen zu verstecken. Um den Fall zu lösen und die eigentliche Geschichte hinter den Indizien zu finden, muss Detektiv Colombo das Spiel der Inszenierung mitspielen.
Jérémie Gindre, Künstler

 

Aus dem ST.GALLER TAGBLATT vom Dienstag, 9. März 2005