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exex_2005/exex.change nr. 2/presse

Die Suche nach Eliana M.
Die Genfer Künstlerin Ingrid Wildi zu Gast im Projektraum exex

Das 2003 entstandene Video- Essay der aus Chile stammenden Ingrid Wildi beschäftigt sich mit den Fragen um Wahrnehmung und Identität. Wildi vertritt die Schweiz an der diesjährigen Biennale in Venedig.

 

Brigitte Schmid-Gugler

 

Der Film beginnt mit einer Aufnahme auf eine im Bett sitzende ältere Frau, deren Hände unablässig über einen grob gestrickten Pullover streichen. Die Frau murmelt: «Die Berliner Mauer habe ich auch vorausgesagt, fünf Jahre zuvor, und ich habe es einigen Leuten gesagt. Das hatte ich ganz vergessen.» Dann bricht die Szene ab, und der Filmtitel: «Aquí vive la Señora Eliana M…?» wird eingeblendet. Ingrid Wildi hat sich mit dem Beginn ihres Video-Essays eines Spielfilmelements bedient, indem sie den Schluss an den Anfang setzte.

Der Grund dieser zuerst eingeblendeten Szene eröffnet sich somit erst am Ende des einstündigen Films: Die Tochter hat ihre Mutter also gefunden, sie war der Anlass ihrer Reise nach Chile, ihrer Befragungen von Freunden und Bekannten der Mutter. Die seit 1981 in der Schweiz lebende Künstlerin nähert sich dieser Suche nicht mit dokumentarischen Filmmitteln, sondern sie unterlegt ihre Videoarbeit mit den Fragen zur eigenen Identität, zu Erinnerung und deren Lücken. «Wohnt hier Eliana M…?» ist ein Grenzgang zwischen Realität und Fiktion, der sich eindeutig auf die narrative Darstellungsform ihrer Recherchen stützt. Es gehe ihr nicht darum, die Wahrheit über den Verbleib ihrer Mutter herauszuarbeiten, sondern vielmehr darum, wie Menschen beziehungsweise deren kollektives Gedächtnis mit Geschichte umgehen, sagt Ingrid Wildi.

 

Chile und anderswo

Ihre frühere Heimat Chile bot sich ihr deshalb nicht nur vor dem Hintergrund der verschwundenen Mutter an, sondern als klassische Vorlage für den allgemeinen Umgang mit Erinnerung und Wahrnehmung. Chile, das Land, in dem noch heute sehr viele Menschen dem früheren Diktator Pinochet nachtrauerten, weise die Merkmale des Verdrängens und des beliebigen Zurechtrückens von Wirklichkeit höchstens verschärft auf. Festhalten und nachweisen liesse sich dies ebenso in allen anderen Gesellschaften, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, sagt Wildi. Sie nahm die Suche nach der Mutter, welche ihre Familie verliess, als die Tochter vier Jahre alt war, als fragmentarische Vorlage für die Ausprägungen kultureller Identität. Der Begriff des «Verschwindens» nicht nur als die Folge von gewalttätigen Machtstrukturen, sondern auch als eine Art von Umgang mit individueller verblassender oder verdrängter Erinnerung im Zusammenhang mit Geschichte, Land, Religiosität, Gewalt, Migration.

 

Migration und eigener Weg

Die in Genf lebende Ingrid Paula del Carmen Wildi-Merino wanderte als 18-Jährige mit ihren Geschwistern und dem Vater in den Kanton Aargau ein, nachdem Letzterer während des Pinochet-Regimes seine Arbeit verloren hatte. Die Schweizer Grosseltern waren in den 30er-Jahren nach Argentinien ausgewandert, Ingrid Wildis Vater übersiedelte später nach Chile und heiratete die Chilenin Eliane M. Die Künstlerin, die in Chile das Gymnasium abgeschlossen hatte, arbeitete die ersten Jahre nach ihrer Migration in die Schweiz als Fabrikarbeiterin und als Serviceangestellte, bevor sie in Zürich den Vorkurs, die vier Jahre dauernde Ausbildung an der Hochschule für Kunst und Gestaltung sowie ein Nachdiplomstudium in Genf absolvierte. Nach Jahren ausschliesslicher Tätigkeit als bildende Künstlerin bedient sich Ingrid Wildi in ihren neueren Arbeiten des Video-Essays als, wie sie sagt, vielschichtigeres Ausdrucksmittel. Sie wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem erhielt sie 2004 den Manor-Preis. An der Expo.02 zeigte sie zum Thema «Heimatfabrik» eine gemeinsam mit dem Künstler Mauricio Gajardo entwickelte Konzeptstudie unter dem Titel «Kontinuum», und an der diesjährigen Biennale wird sie in einer von Stefan Banz kuratierten Ausstellung die Schweiz in Venedig vertreten.

 

Fiktion und Realität

Während ihres viermonatigen Aufenthalts in Chile besuchte und filmte Ingrid Wildi Verwandte, Freunde und Bekannte ihrer Mutter und stellte sich ihnen als im Film unsichtbare Gesprächspartnerin gegenüber. Sie beharrt in ihren Begegnungen nicht auf ein Frage-und-Antwort-Spiel, sondern lässt die Szenen entstehen, fliessen. Die Schilderungen der getroffenen Personen umkreisen einfache Begebenheiten und sind eingeschlossen in eine Unmittelbarkeit des räumlich klar eingegrenzten Augenblicks. Die Szenen erhalten so Alltagscharakter und gewinnen gerade durch ihre zeitliche Begrenztheit an bildhafter Intensität. Die Grossmutter etwa, die hinter einer mit Nippsachen überladenen Anrichte umständlich ein in einer Zellophantüte steckendes Porträt von Pinochet hervorzieht und den früheren Diktator ihren «Wohltäter» nennt, weil dessen Familie früher ihre Torten gekauft hatte, gehören mit zu den stärksten Sequenzen. Die Künstlerin wahrt Distanz in der Nähe, sie schält sprachliche Dichte aus der Flüchtigkeit des Erinnerns. Und ihr Fokus auf die in keinem Moment ins Rührselige abdriftende Frage nach dem Aufenthaltsort ihrer Mutter wird zur Metapher für eine urmenschliche, urmütterliche Heimatsuche.

 

Aus dem ST.GALLER TAGBLATT vom Samstag, 23. März 2005