pool position #02.

corinne schatz. zum projekt «file sharing»

Sehr verehrte Damen und Herren
Ich freue mich, Sie im Namen der visarte.ost zur Eröffnung der pool position 2 im exex zu begrüssen.

Um gleich etwas klarzustellen: Dies ist keine Ausstellung. Was wir heute eröffnen ist auch keine Installation, Sie sehen hier überhaupt keine Kunstwerke …

«Man soll das Pferd nicht von hinten aufzäumen»: auch wenn Sie keine ReiterInnen sind, werden Sie dieses Sprichwort kennen und verstehen. Meine Aufgabe jedoch scheint es heute abend zu sein, eben dies zu tun: Ich spreche über ein Projekt, das es noch nicht gibt, resp. das erst als Projekt - als Vorhaben existiert.
Üblicherweise findet eine Vernissage statt, wenn ein künstlerischer Prozess abgeschlossen ist. Heute jedoch feiern wir den Start eines künstlerischen Projektes; welche Ergebnisse und Erkenntnisse es hervorbringen wird, können wir erst in den kommenden Wochen erfahren.

Vor bald 100 Jahren hat Marcel Duchamp eine Diskussion in Gang gesetzt, die mit wechselnder Vehemenz die Kunst fast des ganzen vergangenen Jahrhunderts geprägt hat: sie drehte sich um Fragen nach dem Werkbegriff und der Autorenschaft, gefolgt von der stetigen «Erweiterung des Werk- oder Kunstbegriffs», bis hin zur Frage nach Konzept, Idee und der Notwendigkeit von deren Materialisierung in einem Werk. Begleitet wurden diese Auseinandersetzungen von immer weiter greifenden Grenzüberschreitungen, einerseits zwischen den verschiedenen Kunstsparten, andererseits zwischen Kunst und Alltag, Kunst und Leben, …
In jüngerer Zeit hat sich die Diskussion verschoben auf das Thema Kontext, Funktion der Kunst, die Rolle des Künstlers/der Künstlerin in der Gesellschaft, und das Verhältnis zur medialen Verfügbarkeit im worldwide Web. Die Aufmerksamkeit gilt den Strategien, den Vorgehensweisen, welche in der Kunst, resp. von den Kunstschaffenden praktiziert werden, und sie gilt den Interaktionen zwischen Kunst und ausserkünstlerischen, resp. medialen Bereichen.
So hat sich z.B. das Selbstverständnis einiger Künstler in den Bereich der Dienstleistungen bewegt: kürzlich konnten sich die BesucherInnen der Ausstellung «Public Affairs» vom Künstler San Keller die Treppen des Zürcher Kunsthauses hochtragen lassen.
Auch die Aufgabenteilung Kurator - Künstler verwischt sich, wenn z.B. Museumsleiter ihre Sammlungen von Künstlern ausstellen lassen. Da stellt sich die Frage: Entsteht dabei eine Installation des Künstlers, ein Werk, oder wie wird diese Zusammenarbeit am Ende definiert? Die Reihe von Beispielen, wie KünstlerInnen ihre Rolle und Funktion innerhalb des Kunstsystems und innerhalb der Gesellschaft wahrnehmen und definieren, könnte lange fortgesetzt werden, was den Rahmen dieser Ansprache jedoch sprengen würde.

Als exemplarisch für diese Auseinandersetzungen können wir das Projekt wortwerk.ch von Matthias Kuhn betrachten, dessen neuestes Teilprojekt wir heute gemeinsam starten.

So befinden wir uns - wie gesagt - nicht in einer Ausstellung, sondern eher in einem Labor, einem Büro, einer Netzwerk-Zentrale, einer Diskussionsplattform, einem Internet-Café, einer Videolounge, etc. etc. Der Raum wird verschiedenste Funktionen übernehmen im Laufe der nächsten Wochen, und ebenso wird Matthias Kuhn, der seinen Arbeitsplatz hierher verlegt hat, verschiedenste Aufgaben erfüllen.
Er wird private und öffentliche Gespräche mit eingeladenen Gästen führen, er wird aber auch Gastgeber für - durchaus erwünschte - «ungebetene Gäste» sein, er wird Veranstaltungen organisieren, er wird die Ergebnisse seiner Forschungen, resp. Gespräche in die Website des Projektes eingeben, sodass sie für jedermann zugänglich werden.

Dass das Projekt heute am Anfang steht, bewirkt, dass ich bestenfalls über die Fragen sprechen kann, welche sich in seinem Umfeld stellen. Vielleicht werden einige davon in zwei Monaten zu beantworten sein, andere werden sicherlich weiterhin offen und zu diskutieren bleiben.

Ein kleiner Blick in bisherige Projekte von Matthias Kuhn, die er bis 2001 in Zusammenarbeit mit Georg Rutishauser, seither allein oder in diversen Gruppierungen erarbeitet hat, zeigen als gemeinsamen Nenner eine intensive Auseinandersetzung mit dem System Kunst, mit dem Begriff «Kunst», mit der Funktion der Kunst und mit der Rolle und dem Selbstverständnis, wie auch den Arbeitsweisen von KünstlerInnen. Seien es die gesammelten Zitate mehr oder weniger tiefgründiger Definitionen von Kunst, wie sie z.B. in Bregenz als Plakate die Litfasssäulen besetzten, seien es die Texte zur Kunst im Rahmen des imaginären «Museums für zeitgenössische Kunst» am Ostschweizer Kunstschaffen. Seien es die grossen Gemeinschaftsprojekte wie «übersee» in Romanshorn 2000, oder im vergangenen Jahr die Internet-Plattform «Urlaub online» oder der «Exklusivklatsch» über Sinn und Unsinn (in) der Kunst. Hinter all diesen Projekten scheint ein unermüdlicher Forschungstrieb zu stehen, der dem eigentlichen Wesen der Kunst auf den Grund gehen will. Und in allen Ansätzen steht der Austausch mit anderen, das Gespräch, die Auseinandersetzung, die Begegnung im Zentrum.
So ist auch der Titel «file-sharing» - aus der Internet-Sprache entliehen - bezeichnend; übersetzt bedeutet er: Dateien teilen, d.h. Informationen zugänglich machen und austauschen. (Eines der grossen Themen und Streitpunkte in der Internet-Welt, auf das ich aber nicht näher eintreten möchte.)
Für Matthias Kuhn ist allerdings klar, dass es eben um diesen Austausch, um den freien Zugriff und die Benutzung und Weiterverwertung von Information geht.
Die beieindruckende Liste der Gäste, die er in sein Projekt einlädt, zeigt eine Vielfalt an Sparten und Hintergründen, aus denen diese Gäste kommen. Musik, Literatur, bildende Kunst, Wissenschaft, uvm. Gemeinsam ist ihnen vielleicht, dass sie ebenfalls Grenzgänger sind, Menschen, die in ihrer Sparte, in ihrem Tätigkeitsfeld Grenzen untersuchen, überschreiten, in Frage stellen. Sei es durch die Wahl der Plattform, auf der sie agieren und die sich ausserhalb des Üblichen befindet, z.B. H.R. Frickers Alpsteinmuseum, sei es durch Strategien, welche ihre Rolle(n) und Funktion beleuchten, z.B. der erste Gast Hildegard Spielhofer, die sich als Künstlerin, Kuratorin und Dienstleisterin zugleich betätigt.

Die grosse Frage, die sich stellt, ist, was entsteht daraus? Ist das Ganze am Ende ein Kunstwerk? Bilden alle Gespräche, deren Protokolle im Internet und die Veranstaltungen zusammen ein Werk? Oder ist alles Theorie? Könnte es sein, dass es sich hier um ein autopoietisches System handelt? D.h. ein System, das jene Elemente produziert, aus denen es besteht, durch die Elemente, aus denen es besteht? Das würde bedeuten: Wenn Kunstschaffende miteinander über Kunst reden, unter Einsatz ihrer Strategien über ihre Strategien nachdenken, entsteht dann (wieder) Kunst? Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann schrieb, und das könnte uns vielleicht weiterhelfen, dass die Kunst nicht von den Kunstwerken her bestimmt werden kann , sondern durch die Kommunikation, die von den Kunstwerken ausgelöst wird. (Die Kunst der Gesellschaft, 1995)
Für ihn ist die Kunst ein autopoietisches System: Gerade die Selbstreflexion der Kunst, wie wir sie heute erleben, und wie sie auch Ziel dieses Projektes zu sein scheint, erscheint als ein solches, sich aus sich - und durch sich selbst - erschaffendes System. Die Strategie Kuhns ist die Befragung seiner Gäste nach deren Strategien; es werden sich möglicherweise Verschränkungen, Interaktionen zwischen diesen Strategien ergeben, die Strategie Kuhns wird sich möglicherweise im Laufe des Projektes aus der Auseinandersetzung und Reflexion der vorhandenen Strategien weiterentwickeln und verändern. Es könnte ein stetiger Prozess sich verändernder, sich ineinander verschlingender, Prozesse werden.
Letztendlich geht es jedoch immer wieder um die Frage nach der Funktion und der Rolle der Kunst und des Künstlers in der Gesellschaft und in der Welt globaler, medialer Vernetzung. Und diese Funktion ist die Konfrontation der geläufigen, uns allen bekannten Realität mit einer anderen, eben einer künstlerischen Sicht derselben Realität. Es ist eine der Funktionen der Kunst, sich mit dem Sinn dieser Spaltung in die «reale und die fiktionale/imaginäre/künstlerische Realität » zu befassen, und sie tut dies mit ihren eigenen, selbstentwickelten, selbstreferentiellen - künstlerischen Mitteln.

Für uns, die BesucherInnen, BetrachterInnen, oder in diesem Fall vielleicht eher die LeserInnen (Website) und ZuhörerInnen (Veranstaltungen) wird das Projekt vor allem deshalb hochinteressant und lehrreich sein, weil wir die einmalige Möglichkeit erhalten, sozusagen an der und von der Basis her am «Prozess Kunst» teilzunehmen, dort wo das Selbstverständnis und die Absichten unserer Kunst- und Kulturschaffenden entwickelt und formuliert werden, wir können etwas über ihre Motivation und Methoden erfahren, weshalb und wie sie ihre Arbeit tun.

Dazu bieten sich die zahlreichen öffentlichen Präsentationen, Gesprächsrunden und Veranstaltungen an, wie auch die Website, die laufend mit den neuesten Ergebnissen und Erkenntnissen ergänzt wird und wo Sie Links zu vielen der Teilnehmenden und deren Projekten finden, wie auch Publikationen und Dokumentationen, die im exex aufgelegt werden sollen.

Die visarte.ost lädt Sie herzlich dazu ein und wir hoffen, dass Sie zusammen mit Matthias Kuhn viele erhellende und horizonterweiternde Begegnungen haben werden.

 

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