pool position #02. corinne schatz. zum projekt «file sharing» |
Sehr verehrte Damen und Herren Um gleich etwas klarzustellen: Dies ist keine Ausstellung. Was wir heute eröffnen ist auch keine Installation, Sie sehen hier überhaupt keine Kunstwerke … «Man soll das Pferd nicht von hinten aufzäumen»: auch wenn Sie keine ReiterInnen sind, werden Sie dieses Sprichwort kennen und verstehen. Meine Aufgabe jedoch scheint es heute abend zu sein, eben dies zu tun: Ich spreche über ein Projekt, das es noch nicht gibt, resp. das erst als Projekt - als Vorhaben existiert. Vor bald 100 Jahren hat Marcel Duchamp eine Diskussion in Gang gesetzt, die mit wechselnder Vehemenz die Kunst fast des ganzen vergangenen Jahrhunderts geprägt hat: sie drehte sich um Fragen nach dem Werkbegriff und der Autorenschaft, gefolgt von der stetigen «Erweiterung des Werk- oder Kunstbegriffs», bis hin zur Frage nach Konzept, Idee und der Notwendigkeit von deren Materialisierung in einem Werk. Begleitet wurden diese Auseinandersetzungen von immer weiter greifenden Grenzüberschreitungen, einerseits zwischen den verschiedenen Kunstsparten, andererseits zwischen Kunst und Alltag, Kunst und Leben, … Als exemplarisch für diese Auseinandersetzungen können wir das Projekt wortwerk.ch von Matthias Kuhn betrachten, dessen neuestes Teilprojekt wir heute gemeinsam starten. So befinden wir uns - wie gesagt - nicht in einer Ausstellung, sondern eher in einem Labor, einem Büro, einer Netzwerk-Zentrale, einer Diskussionsplattform, einem Internet-Café, einer Videolounge, etc. etc. Der Raum wird verschiedenste Funktionen übernehmen im Laufe der nächsten Wochen, und ebenso wird Matthias Kuhn, der seinen Arbeitsplatz hierher verlegt hat, verschiedenste Aufgaben erfüllen. Dass das Projekt heute am Anfang steht, bewirkt, dass ich bestenfalls über die Fragen sprechen kann, welche sich in seinem Umfeld stellen. Vielleicht werden einige davon in zwei Monaten zu beantworten sein, andere werden sicherlich weiterhin offen und zu diskutieren bleiben. Ein kleiner Blick in bisherige Projekte von Matthias Kuhn, die er bis 2001 in Zusammenarbeit mit Georg Rutishauser, seither allein oder in diversen Gruppierungen erarbeitet hat, zeigen als gemeinsamen Nenner eine intensive Auseinandersetzung mit dem System Kunst, mit dem Begriff «Kunst», mit der Funktion der Kunst und mit der Rolle und dem Selbstverständnis, wie auch den Arbeitsweisen von KünstlerInnen. Seien es die gesammelten Zitate mehr oder weniger tiefgründiger Definitionen von Kunst, wie sie z.B. in Bregenz als Plakate die Litfasssäulen besetzten, seien es die Texte zur Kunst im Rahmen des imaginären «Museums für zeitgenössische Kunst» am Ostschweizer Kunstschaffen. Seien es die grossen Gemeinschaftsprojekte wie «übersee» in Romanshorn 2000, oder im vergangenen Jahr die Internet-Plattform «Urlaub online» oder der «Exklusivklatsch» über Sinn und Unsinn (in) der Kunst. Hinter all diesen Projekten scheint ein unermüdlicher Forschungstrieb zu stehen, der dem eigentlichen Wesen der Kunst auf den Grund gehen will. Und in allen Ansätzen steht der Austausch mit anderen, das Gespräch, die Auseinandersetzung, die Begegnung im Zentrum. Die grosse Frage, die sich stellt, ist, was entsteht daraus? Ist das Ganze am Ende ein Kunstwerk? Bilden alle Gespräche, deren Protokolle im Internet und die Veranstaltungen zusammen ein Werk? Oder ist alles Theorie?
Könnte es sein, dass es sich hier um ein autopoietisches System handelt? D.h. ein System, das jene Elemente produziert, aus denen es besteht, durch die Elemente, aus denen es besteht? Das würde bedeuten: Wenn Kunstschaffende miteinander über Kunst reden, unter Einsatz ihrer Strategien über ihre Strategien nachdenken, entsteht dann (wieder) Kunst? Für uns, die BesucherInnen, BetrachterInnen, oder in diesem Fall vielleicht eher die LeserInnen (Website) und ZuhörerInnen (Veranstaltungen) wird das Projekt vor allem deshalb hochinteressant und lehrreich sein, weil wir die einmalige Möglichkeit erhalten, sozusagen an der und von der Basis her am «Prozess Kunst» teilzunehmen, dort wo das Selbstverständnis und die Absichten unserer Kunst- und Kulturschaffenden entwickelt und formuliert werden, wir können etwas über ihre Motivation und Methoden erfahren, weshalb und wie sie ihre Arbeit tun. Dazu bieten sich die zahlreichen öffentlichen Präsentationen, Gesprächsrunden und Veranstaltungen an, wie auch die Website, die laufend mit den neuesten Ergebnissen und Erkenntnissen ergänzt wird und wo Sie Links zu vielen der Teilnehmenden und deren Projekten finden, wie auch Publikationen und Dokumentationen, die im exex aufgelegt werden sollen. Die visarte.ost lädt Sie herzlich dazu ein und wir hoffen, dass Sie zusammen mit Matthias Kuhn viele erhellende und horizonterweiternde Begegnungen haben werden.
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