karin bucher/matthias kuhn/alex meszmer
ursache und wirkung, absicht und zufall

 

die geschichte der geschichtsbuecher

«die geschichte der geschichtsbuecher, jenes unerklaerlich chronologische kontinuum, kommt ihm dozierend abhanden und wandelt sich in eine theorie der subjektiven geschichtsschreibung. anekdoten aus seiner familiengeschichte [...], die eine geschichte des ersten und zweiten weltkrieges, eine geschichte der bierbrauerei, eine geschichte des kampfes der menschen gegen das wasser und die suempfe ist, ergeben so ein neues geschichtsbild, das vom einzelnen ausgehend, in kleinen, persoenlichen schritten auch ein neues weltbild liefert.» das schreibt graham swift in seinem roman «waterland».

geschichte ist kein kontinuum aus daten und taten, wie es die geschichtsbuecher vorgeben, geschichte ist auch nie bloss spartengeschichte, wie jene buecher vortaeuschen, die titel tragen wie «eine kleine geschichte des gesundheitswesens im 20. jahrhundert» oder «aufstieg und fall des roemischen reiches». geschichte ist wesentlich komplexer und sehr viel literarischer als wir das aus den geschichtsbuechern wissen. geschichte entsteht in einer dichte von fakten und fiktionen, von artefakten und visionen, von erzaehltem und also gehoertem, von erlebtem und ertraeumtem, von vergangenem, gegenwaertigem und natuerlich zukuenftigem; geschichte ist immer subjektiv und veraenderbar und nie und nimmer abschliessbar. swift schreibt: «[...] nur tiere leben ausschliesslich im hier und jetzt. nur die natur hat weder gedaechtnis noch geschichte. der mensch aber [...] ist das tier, das geschichten erzaehlt.»

geschichte lebt mit den menschen, die sie erleben, geschichte verwandelt sich in geschichten, geschichten konstituieren geschichte, wann immer erzaehlt und zugehoert wird. so besteht am schluss unser geschichtsbuch - das schlicht heissen wird «eine umfassende geschichte der welt» - aus transkriptionen von gespraechen, aus erzaehlungen, romanen, tatsachenberichten, aus allen moeglichen biografien, aus audio- und videoaufnahmen, aus filmen, aus buechern, heften und notizen, aus sehr vielen bildern natuerlich, gemalten, fotografierten und so weiter.
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vom staatsarchiv auf den estrich

dieses verstaendnis von geschichte, oder eigentlich von welt ueberhaupt ist die grundlage einer soliden spurensicherung. es steht dahinter die wahnwitzige idee, aller geschichten und themen, aller zustaende und stimmungen habhaft zu werden, die einen ort bestimmen ... auch das alte spital in trogen. viele leute wurden in zeiten des spitals hier behandelt, viele leute haben in zeiten des pflegeheims hier gelebt. viele sind hier geboren worden, viele sind im laufe der jahre hier gestorben. die spurensicherung versucht zum letzten moeglichen zeitpunkt noch einmal einzugreifen und die geschichte mit den subjektiven mitteln der kunst ans licht zu bringen, offen zu legen und geschichten zu erzaehlen.

so haben wir uns auf die suche nach all diesen geschichten gemacht. zuerst im staatsarchiv herisau. wunderbare alte federaquarelle von johann ulrich fitzi aus dem jahre 1822 mit ansichten der honnerlag'schen gartenanlage, eine kopie des alten grundrisses des krankenhauses trogen aus den gruenderjahren und ein zeitungsartikel mit dem titel «100 jahre bezirkskrankenhaus trogen» waren die beute. im gemeindearchiv und in der kantonsbibliothek trogen fanden wir alte statuten des spitals.
verwundert, nicht mehr zu erfahren ueber die bedeutung des hauses in seiner zeit und ueber die menschen, die darin gelebt haben, aenderten wir unsere strategie und begaben uns direkt vor ort auf spurensuche. in einem gespraech erzaehlte margreth sturzenegger, die ehemalige oberschwester des spitals und dann die erste leiterin des pflegeheims, aus den 70er- und 80er-jahren. peter lenz, leiter des pflegeheims und oberschwester marija paurevic berichteten aus den 90er-jahren bis zur aufloesung des pflegeheims im sommer 2006.

eva hensel hat (fuer das lebensgeschichtenmuseum in speicher) mit den bewohnern des pflegeheims gespraeche gefuehrt, peter kaeser die letzten stunden fotografisch festgehalten. neben den vielen erzaehlungen und erinnerungen stehen aber auch die im haus zurueckgebliebenen objekte fuer eine vergangene zeit. das ganze haus war voll mit akten und gegenstaenden von menschen, die fuer kurze oder laengere zeit dieses haus bewohnt hatten. im estrich des hauses entdeckten wir eine grosse wunderkammer mit alten inhalationsgeraeten, operationswerkzeugen, flaschen, alten medizinbuechern, roentgenaufnahmen und etlichen umbauplaenen aus verschiedenen epochen.
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matière et mémoire

in bergsons dialektik finden sich die begriffe «matière» und «mémoire» - die erinnerung, die sich an einen gegenstand heftet und so ausloeser fuer assoziationen wird. die dinge sind uns zeichen fuer das vergangene und fuehren unsere geschichten auf den rechten weg: sie belegen die existenz des vergangenen durch ihre reine, materielle praesenz.
vielleicht wurde dies am besten in der zeit der grossen entdeckungen und der entstehung von wunderkammern begriffen, als sich fuersten, koenige und spaeter auch reiche buerger daran machten, zu sammeln, was die welt an besonderheiten zu bieten hatte. gesammelt wurde alles: schafe mit zwei koepfen, foeten von siamesischen zwillingen, ausgestopfte tiere und voegel, archaeologische artefakte, bilder, die beschreibungen von laendern und landschaften, von mensch und tier und natuerlich von reisen mitgebrachte gegenstaende, abnormitaeten, monstruositaeten und abstrusitaeten aus unseren breitengraden und gegenstaende von besonderer raffinesse und hoher handwerkskunst. diese sammlungen waren einerseits der ausdruck von macht und reichtum: «seht her, wer sich das alles leisten kann! wer expeditionen aussenden kann, um die seltsamsten wunder der welt zu bergen! wer die dinge bereithaelt, um die welt erklaeren zu koennen!» und andererseits waren und sind diese wunderkammern der ausdruck unseres tiefen, ureigensten menschlichen beduerfnisses zu fabulieren, geschichten zu erzaehlen und zusammenhaenge zu erfinden.
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das spital im garten

1873, am 25. august genau, beschloss eine so genannte «geberversammlung» die erstellung eines bezirkskrankenhauses in trogen. fuer den neubau standen rund 100'000 franken zur verfuegung, die ausschliesslich von privaten gespendet worden waren. 1876 wurde das gebaeude, das von architekt emil kessler geplant worden war, fertig gestellt. es ergab sich ein defizit von 12'000 franken. das gebaeude kam damals mitten in die honnerlag'sche parkanlage zu stehen, eine anlage, die von den besitzern ein paar jahre vorher wegen zu starker finanzieller belastung in drei parzellen aufgeteilt und verkauft worden war. cécile zellweger, die witwe das bankiers ulrich zellweger, verschenkte ihre parzelle 1871 fuer den bau des kranken-hauses. nur wenig erinnert heute noch an die grossartige gartenanlage. die beiden lusthaeuschen vor dem honnerlag'schen doppelpalast, die halbrunde steinerne bank samt hecke, oder das versteckte gartenhaeuschen und die grossen baeume an der ostseite des gelaendes sind die einzigen zeugen jener vergangenen zeit.

1922/23 wurde das krankenhaus dann nach plaenen von paul truninger erweitert, wobei gleichzeitig die praechtige fassade hinter einem verputz verschwand. ein servitut, welches regelt, wo die waesche aufgehaengt werden darf, wo die betten gesonnt und ausgeklopft werden duerfen, stammt ebenfalls aus dieser zeit. sichtbar zurueckgeblieben sind davon die von innen zu hoch angesetzten fenster auf der westseite, welche den ausblick in den garten der nachbarn verwehren.

seit 1976 diente das gebaeude als pflege- und krankenheim. im haus gibt es eine vielzahl von kleinigkeiten, die an die verflossenen zeiten erinnern: eine kleine, eingebaute wanne in einem der raeume ist der ueberrest des geburtszimmers. ein kleines eckzimmer mit massiver und von aussen verriegelbarer tuer im untergeschoss laesst das geruecht aufkommen, dass hier die gefangenen aus dem gefaengnis trogen behandelt worden seien. die reste eines huehnerstalls im keller erinnern an jenen bewohner, der seine huehner von zu hause ins krankenheim mitnehmen durfte.

im juni 2006 zogen die letzten bewohnerinnen und bewohner ins neue alterszentrum in speicher um. damit beginnt eine voellig neue aera fuer das alte spital, das als wohn-, arbeits- und kulturhaus fortan palais bleu heissen wird.
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kulturhaus palais bleu

die genossenschaft «palais bleu» ist mit der zielsetzung «guenstiges und lebendiges wohnen und arbeiten im alten spital trogen» gegruendet worden. die besonderen raumqualitaeten, die raumhoehe und den teils verborgenen charme der anlage, sowie der oeffentliche charakter des hauptgebaeudes mit seinen offenen strukturen bewegte uns als initianten dazu, ein haus zum wohnen, arbeiten und fuer kulturelle aktivitaeten zu schaffen.

der neubau, an der westseite gelegen, wird zu einem kompletten wohnhaus mit drei wohnungen umstrukturiert. zusaetzlich entstehen spaeter zwei weitere wohnungen im dachstock des hauptgebaeudes. dort, wo urspruenglich operiert, geroentgt, sterilisiert, durchgecheckt und gesund gepflegt wurde, entstehen ateliers mit einer gemeinsam genutzten infrastruktur in den gaengen. ein kunterbuntes gemisch von unterschiedlichen betrieben und kulturschaffenden wird diese raeumlichkeiten neu beleben. die grosszuegigen gaenge sollen fuer ausstellungen genutzt werden. im untergeschoss entstehen verschiedene werkstaetten: ein ton- und gipsraum, eine holz- und metallwerkstatt, eine druckwerkstatt und ein fotolabor. der kulturraum mit bar und kueche kann fuer anlaesse, seminare, kurse oder feste genutzt werden.
eine gaestewohnung und die werkstaetten ermoeglichen zudem in zusammenarbeit mit dem projektraum exex ein «artist in residence»-projekt, das einen lebendigen kulturellen austausch anregen wird.

wenn haeuser, kirchen, doerfer oder ganze stadtviertel langsam zu verrotten beginnen, dann kommen nach den maeusen und ratten und den sozialen randexistenzen - die kuenstler! billiger wohn- und arbeitsraum ist knapp in unserer streng durchorganisierten gesellschaft. allerdings ergeben sich inzwischen automatisch synergien zwischen behoerden oder liegenschaftsverwaltungen und kulturschaffenden. die angst vor hausbesetzern, linken agitatoren und anarchisten ist einer grundsaetzlichen bereitschaft zur zusammenarbeit gewichen. haben doch beide seiten erkannt, wie fruchtbar das miteinander sein kann: haeuser werden wieder instand gesetzt, oder in ihrer substanz erhalten, und oft erfahren ganze stadtviertel aufwertungen, die dazufuehren, dass ploetzlich wieder «in» ist, was noch vor kurzem keine nutzung mehr hatte. es kann also durchaus lohnend sein, subkultur zu foerdern. andererseits ermoeglichen solche synergien auch den kuenstlern, konstruktiv und in ruhe ihrer arbeit nachzugehen. neue pfruenden tun sich auf, foerderprogramme entstehen: kultursponsoring ist ein etabliertes element der kunstfoerderung geworden, dem sich ein kuenstler heute nicht mehr verschliessen kann. die zeiten als die kreativitaet alles galt und das materielle nichts sind vergangenheit, und das bewusstsein hat sich gewandelt.
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kunst als ermittlung vor ort

fuer das projekt «spurensicherung», eine ermittlung vor ort, wurden nicht archaeologen oder kriminalisten beigezogen, sondern kuenstlerinnen und kuenstler. denn in diesem fall verfuegt allein die kunst ueber die richtigen instrumente fuer jene untersuchungen, die hier gefuehrt werden sollen. zu diesen instrumenten und techniken gehoert der nicht wissenschaftliche, nicht zielgerichtete, der unvoreingenommene, neugierige blick, die gnadenlose subjektivitaet der sichtweisen, die spezifischen moeglichkeiten die realitaet in frage zu stellen (wie es brecht schon sagte). und vor allem kann die kunst zwischen der wirklichkeit und der moeglichkeit geschichten so installieren, dass sie unsere wahrnehmung des ortes irritieren und uns zum denken, das heisst auf gedanken bringen.

im projekt «spurensicherungen» steht das eingehen auf das alte spital und seinen kontext im zentrum. interessant wird es dort, wo die kuenstlerinnen es vermoegen, die geschichte nicht nur zu zeigen, sondern sie sich anzueignen, zu transformieren und in die gegenwart zu holen und - wenn nicht sogar eine zukunft anzudeuten -, so mindestens den ort des raumes und der zeit zu entheben. obwohl alle gezeigten arbeiten sich mit dieser umgebung eingehend beschaeftigen, brechen sie doch aus jenem baulichen und thematischen rahmen aus, den die gebaeude unweigerlich bieten. es entsteht eine konfrontation zwischen ortsspezifischen und individuellen kuenstlerischen themen. die eingeladenen kuenstler haben vor ort intensiv recherchiert, alle haben ihre nischen, themen und ansatzpunkte gefunden und mit kleineren und groesseren eingriffen, mit installationen und aktionen darauf reagiert.

bei marianne rinderknecht, soeren berner, mark staff brandl, emanuel geisser oder isabel rohner, war der ort ihrer intervention sofort klar. die anziehungskraft und ausstrahlung eines bestimmten raumes brachte sie auf eine faehrte und inspirierte sie zu einem eingriff. helmut sennhauser und karin buehler, der eine mit dem fotoapparat, die andere mit dem mikrofon, erkundeten die umgebung auf andere weise und fanden so ihr material und ihr thema. ueberhaupt wurden unzaehlige bilder gemacht - sehr intensiv hat monika ebner fotografiert - und doch waren sich alle einig, dass die wirkliche qualitaet des hauses sich nicht fotografisch erfassen laesst. vielleicht aus diesem grund verbrachten ghislaine ayer und auch barbara bruelisauer ein paar tage in den raeumen und arbeiteten sich regelrecht in den kontext ein. oder hans haefliger und juerg rohr: die beiden verbrachten eine nacht im haus, um den stimmungen auf die spur zu kommen. wieder andere - luzia broger und stefan inauen - besichtigten das haus und die umgebung, dokumentierten sich ausgiebig, und verarbeiteten die eindruecke dann im eigenen atelier.

das resultat dieser «spurensicherung» sind interventionen, die den ort auf unterschiedlichste art und weise aufnehmen und behandeln. alle kuenstlerinnen zeigen arbeiten, die fuer das alte spital konzipiert und realisiert wurden, in einer ausstellung die nur hier moeglich ist, weil der starke ort die kunst entscheidend mitgepraegt hat.
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kriminalistik als kunst, oder umgekehrt

allain robbe-grillet schrieb: «die beweisstuecke der kriminalistik geben paradoxerweise ein recht getreues bild der situation. die von den inspektoren gefundenen anhaltspunkte - ein am tatort liegen gebliebener gegenstand, die auf einem photo festgehaltene bewegung, der von einem zeugen gehoerte satz -, scheinen zunaechst vor allem nach einer erklaerung zu verlangen und nur auf grund ihrer rolle in einer affaere zu existieren, die ueber sie hinausgeht. schon werden theorien aufgestellt.
der untersuchungsrichter sucht eine logisch zwingende verbindung zwischen den dingen herzustellen. man glaubt, dass alles sich in einer banalen folge von ursache und wirkung, absicht und zufaellen aufloesen wird.
doch dann wird die geschichte beunruhigend unklar. die zeugen widersprechen sich, der angeklagte beschafft alibi auf alibi, neue tatsachen treten auf. mit denen man nicht gerechnet hatte. und wieder kommt man auf die indizien zurueck: den genauen platz eines moebelstuecks, die form und haeufigkeit eines abdrucks, das in einem text enthaltene wort. zusehends gewinnt man den eindruck, dass nichts anderes wahr ist. ob sie nun ein geheimnis verbergen oder verraten: diese spuren, welche einer systematisierung spotten, haben nur eine einzige serioese und offenkundige eigenschaft, naemlich da zu sein.»

in den raeumen des alten spitals trogen erwarten das publikum viele ahnungen und erinnerungen und kuenstlerische interpretationen. das heisst, es gibt vieles zu entdecken zwischen keller und estrich. und wir hoffen, ganz im gegensatz zu monsieur robbe-grillet und allen kriminalisten, dass sich nichts in einer banalen folge von ursache und wirkung, absicht und zufaellen aufloesen wird.
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http://www.palaisbleu.ch
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ursache und wirkung, absicht und zufall
einführung zu eröffnung der spurensicherung
mit karin bucher/matthias kuhn/alex meszmer

freitag, 18. august 2006, 19 uhr
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alex meszmer, karin bucher und matthias kuhn eröffnen die spurensicherung.