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exex_2005/exex.change nr. 2

jérémie gindre
warum die pilze hier und dort wachsen

der genfer künstler jérémie gindre (*1978) zeigt mit dieser installation im projektraum exex – nach «crawl & sédiments» im kunsthaus baselland in muttenz – zum zweiten mal eine grössere arbeit in der deutschschweiz.

gindre ist ein gewandter, oder vielmehr gewiefter installateur und erzähler. unbeschwert baut er aus den unterschiedlichsten materialien modellhafte inszenierungen zusammen, kombiniert mit malereien, fotografien und skulpturalen objekten und erfindet dabei ganze universen, die er auf der einen seite denkbar nahe an unseren alltag anlehnt, die uns aber auf der andern seite unvorstellbar weit – gerade vom vertrauten alltag – wegführen. schamlos manipuliert er die wirklichkeit, fiktionalisiert sie und stürzt uns damit in geschichten und zusammenhänge, von denen wir keine ahnung hatten …

in basel baut gindre den grund eines sees nach, aus dem scheinbar das wasser ausgelaufen ist und macht die sand- und kiesbänke sichtbar, auf denen das eine oder andere strandgut liegen geblieben ist: anker, rostige kisten, vertrocknete pflanzen, flaschen, plastikteile und so weiter … dazwischen dieses verwirrende objekt aus plastikblachen – la grande bâche mystérieuse – von dem man nicht recht weiss, was es enthält … oder das polizeiboot, das von hinten gesehen ein handgezimmertes floss ist, von vorne die form eines schnittigen sportbootes hat und gleichzeitig die kulisse eines sommersees darstellt, auf dem viel zu viele polizeiboote patroullieren. oder auch die geschichte des schönen mädchens alien … es gäbe da noch einiges zu erzählen …

aus allen erzählungen, die gindre zu erzählen beginnt, entsteht nie eine lineare erzählung, immer entsteht ein mehrschichtige fiktion, die sich weder zuende denken, und schon gar nicht zu ende erzählen lässt.

… auch mit unserer eigenen rolle kommen wir in der installation nicht mehr zurecht: einmal wähnen wir uns in einer kulisse für ein komplexes theaterstück, ein ander mal blicken wir in ein modell hinein und können uns so nie sicher sein, wo wir gerade stehen und welche position wir einnehmen. nie wissen wir genau, ob wir jetzt teil der szenerie sind, oder nur die unbeteiligten beobachter.

ganz ähnlich verhält es sich mit der installation «warum die pilze hier und dort wachsen». gindre hat den projektraum zu einem eigentlichen bühnenraum umgebaut. alles ist vorhanden: das proszenium, der vorhang, die beleuchtung, die kulisse.

das bühnenbild zeigt eine durch pilze bestimmte chaotische welt um einen übergrossen zentralpilz, einen, wie wir ihn etwa aus jules vernes «reise zum mittelpunkt der erde» kennen könnten. jules verne schreibt:

Aber nein, als wir näher kamen, bestätigte sich der erste Eindruck, unser Erstaunen wurde jetzt von der Bewunderung verdrängt. Das waren Gewächse, wie sie die Oberfläche der Erde auch kannte, aber ins Riesenhafte vergrössert. «Champignons», sagte mein Onkel, «Ein ganzer Wald voll.» Es handelte sich tatsächlich um weisse Champignons, die hier in diesem Klima zu einer Höhe von 9 bis 12 m aufgeschossen waren und einen Hut von gleich grossem Durchmesser trugen, Tausende und Abertausende. Sie standen so dicht, dass das Licht nicht bis zum Boden drang; unter ihren übereinandergeschobenen Kappen herrschte undurchdringliches Dunkel.

die monströsen pilze illustrieren ausgezeichnet wie gindre seine abwegigen geschichten an- und auslegt: wie rhizome oder wurzelsysteme bilden auch die pilze unter dem boden ausschweifende geflechte, sogenannte myzelien, aus denen die fruchtkörper dann, meist über nacht und an unvorhersehbaren orten, hervorspriessen. ähnlich überraschend springen uns die assoziationen und geschichten an, wenn wir an der vorbühne stehen und das stück in unserem kopf beginnt.

zum beispiel: der riesenpilz bei tim & struppi. zuerst sieht er aus wie ein ei, das zwischen den steinen liegt – «Das ist kein Ei! … Das ist ein Pilz!» ruft Tim –, wächst dann aber rasend schnell, wird grösser als der hund und auch grösser als der mann, und explodiert schliesslich mit einem standesgemässen «WUMM». «Weg! … Futsch! … Verschwunden! … Verdampft! …» staunt tim.

das ist nur ein weiterer abweg in die literatur … von weit gewichtigeren anspielungen – apropos rhizome – ganz zu schweigen …

exemplarisch für die art und weise wie jérémie gindre in all seinen arbeiten assoziativ erzählerisch vorgeht, steht auch das plakat, das im rahmen aller «échanges»-ausstellungen in der ganzen schweiz ausgehängt wird und das derzeit an ausgewählten stellen in der stadt st.gallen zu sehen ist.

ein liniengewirr auf weissem grund verbindet einzelne sujets: Ein Anhänger namens Montecarlo, eine Inschrifttafel, ein Seehund mit obligatem Eisberg, zwei Mannsbilder mit einem begehrten Objekt, ein verwahrlostes Motorboot mit Velo fahrendem Sonnyboy, ein Landstreicher aus dem letzten Jahrhundert. Diese Figuren sind verbunden mit einem Rennauto, einem Historienbild, einem Flammentor, einem tanzenden Dino und so weiter …

für gindre steht auch in dieser arbeit nie die plakative information im vordergrund, sondern die spielerische aufforderung, über eindeutige oder manchmal auch unglaubliche, absurde, skurile zusammenhänge nachzudenken. insofern setzt das plakat die themen der ausstellung im öffentlichen raum nahtlos fort … oder trägt die themen umgekehr in die ausstellung hinein, wenn wir eintreten in die wunderbare welt der pilze und uns überlegen, warum die pilze hier und dort wachsen.

matthias kuhn, einführung zur eröffnung der ausstellung, projektraum exex, st.gallen, 3. märz 2005

 

weitere informationen
> matthias kuhn: jérémie gindre – warum die pilze hier und dort wachsen.
> rainer peikert: das projekt «échanges».
> ursula badrutt schoch: ph-power-promo.
> ursula badrutt schoch: zum verweilen verführen

 

weitere informationen zum werk jérémie gindres
> jérémie gindre: crawl & sédiments (kunsthaus baselland, muttenz)
> chez josé, une émission proposée par jérémie gindre (mamco, genève)
> jérémie gindre chez attitudes, espace d'arts contemporains, genève (attitudes, genève)
> jérémie gindre chez evergreene, genève (evergreene, genève)

 

 

 

jérémie gindre: «parturiunt montes, nascetur ridiculus mus.» (Horace)

 

jérémie gindre: warum die pilze hier und dort wachsen. installation

 

 

 

plakataktion des skv mit dem plakat jérémie gindres in der st.galler innenstadt.